Kungsleden: 100 FARBEN WEISS

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Kungsleden: 100 FARBEN WEISS

Im Winter führt der nordschwedische Kungsleden durch einsame Endlosigkeit, die sich zwischen Himmel und Erde in sanften Farben verliert. Der Fotograf Andreas Jacob hat sich zusammen mit seinem Freund Fabian Grafetstetter auf den Weg ins Tal der Stille gemacht.

Es ist zwei Uhr nachts, als die beiden ihre Ski abschnallen und den Winterraum der Abiskjaure betreten. Der Himmel ist sternenlos schwarz, die Luft klirrend kalt, die Freunde müde, aber glücklich, endlich wieder hier zu sein – in der schneeweißen Weite jenseits des Polarkreises. Rund 470 Kilometer lang ist der als Königsweg bezeichnete Fernwanderweg, der von Abisko bis Hemavan durch die nahezu unbesiedelten Skanden führt und sich je nach Zeit und Kondition individuell unterteilen lässt. Ist der Kungsleden im Sommer ein beliebter Wanderklassiker, ist er im Winter ein weitgehend einsames, mitunter herausforderndes Abenteuer. Also genau das Richtige für Fabian und Andreas. Exakt vor zehn Jahren sind sich die beiden bei einer Skitour in Kirgistan zum ersten Mal begegnet und seitdem regelmäßig rund um die Welt unterwegs. Diesmal auf Back Country Ski von Abisko bis Nikkaluokta, dem schönsten Streckenabschnitt des Kungsleden in Nordschweden.

Neben essenziellem Equipment – von der vielschichtigen Kleidung über ein gutes GPS bis zur Wärmesalbe – ist das wichtigste Element der Reise jedoch ihre von Tour zu Tour gewachsene Freundschaft. „Wir passen einfach perfekt zusammen und sind inzwischen ein eingespieltes Team. Und dann ist Fabian auch noch ein echter Styler“, lacht Andreas. Der Outdoor-Fotograf mit Faible für schwedische Schokolade ist immer auf der Suche nach außergewöhnlichen Landschaften und sportlichen Abenteuern. In Fabian hat er dafür den idealen Weggefährten gefunden, denn der Sportwissenschaftler arbeitet nicht nur im Bereich Ausdauerleistungsdiagnostik, sondern bringt sich auch selbst gern auf Hochtouren. Eine optimale Voraussetzung, denn anstatt wie geplant von Winterhütte zu Winterhütte zu laufen, mussten die beiden aufgrund einer Verzögerung im norwegischen Tromsø am ersten Tag gleich mal zwei Etappen zurücklegen.

Jetzt heißt es aber erst mal den kleinen Ofen einheizen und den eiskalten Winterraum auf Schlaftemperatur bringen, bevor die beiden bei Kerzenlicht in ihre Schlafsäcke schlüpfen. Denn Strom und Licht gibt es hier nicht. Trotz kurzer Nacht starten die Freunde schon früh in den Tag, der durch die Fenster der Hütte schimmert. Noch wichtiger als das Frühstück, ist der mitgebrachte Kaffee, der schon in der Bialetti auf dem kleinen Gasherd blubbert und die kleine Unterkunft mit seinem Duft erfüllt. Danach wird der Winterraum für die nächsten Besucher:innen präpariert, der genauso hinterlassen werden muss wie er vorgefunden wurde. Es müssen Holz gehackt, Wasser geholt und die Vorräte wieder aufgefüllt werden, bevor die in Abisko geliehene Pulka – eine riesige Reisetasche auf einem Schlitten – erneut gepackt wird.

Während die meisten Reisenden nur das Nötigste mitnehmen, haben sich Andreas und Fabian für eine „Kreuzfahrt unter den Abenteuern“ entschieden und neben elementarer Ausrüstung wie ihren Schlafsäcken und gefriergetrocknetem Adventure Food auch ein paar Luxusartikel wie Hafermilch für den Kaffee oder Bier für den Abend mitgenommen. Als leidenschaftlichen Sportler stört es Fabian nicht, die circa 50 Kilogramm schwere Pulka hinter sich her zu ziehen, während Andreas mal hier, mal dort seiner Kamera freien Lauf lässt, um Natur und Freund einzufangen. Nur bei Anstiegen wird zusammengespannt und ziehen die beiden gemeinsam am leuchtend orangeroten Strang.

Auch wenn sich der Himmel noch grau über das Tal streckt, ist die facettenreiche Stimmung spektakulär. Nichts stört den Blick, während man durch die sanft geschwungene Schneelandschaft gleitet, bergauf, bergab, über gefrorene Flüsse und Seen. Nur die roten Markierungen weisen alle 50 Meter den Weg. Wer sich daran stört, sollte besser nicht in ein Schneetreiben oder einen Whiteout geraten, in denen selbst die knappe Distanz kaum noch sichtbar ist und die Markierungen unter Umständen lebensrettend sein können. Für diesen Fall gibt es auf halber Strecke zwischen zwei Hütten auch immer noch eine kleine Notunterkunft, in der man dann „sturmfrei“ auf bessere Bedingungen warten kann. Am bequemsten mit Isomatte, wissen die beiden Reisenden aus eigener Erfahrung, die sich somit ebenfalls an Bord der großen Pulka findet. Denn ein Sturm kann dauern.

An der zweiten Unterkunft, der Alesjaure, angekommen freuen sich Fabian und Andreas schon auf die Entspannung in der kleinen, feinen Sauna und versorgen sich im hütteneigenen Minimarkt mit dem ein oder anderen Nachschub. „Es ist diese besondere Mischung – tagsüber völlig ausgesetzt zu sein, ohne Verbindung zur Außenwelt und abends dann in einer gemütlichen Hütte anzukommen, Feuer zu machen und etwas Gutes zu kochen“, beschreibt Fabian dieses so besondere Erlebnis.

Gegen acht Uhr morgens starten die beiden in den neuen Tag, um das nächste Etappenziel bis zum Nachmittag zu schaffen. Fast meditativ liegt die Landschaft vor ihnen, die sich in unzähligen Schattierungen aus Weiß-, Grau- und Blautönen auflöst. Das Spiel der Sonne, das durch die Wolken bricht und die Endlosigkeit in gleißendes Licht taucht oder die monochrom gefärbte Szenerie diffus beleuchtet. Hin und wieder blitzen Anzeichen menschlicher Zivilisation auf, wie die schneebedeckte Brücke, die an Sommertagen über den Fluss führt und sich im Winter an das Spektrum aus über einhundert Weißtönen assimiliert.

Manchmal gehen die beiden gemeinsam, manchmal liegen einige Meter zwischen ihnen, folgt jeder seinem eigenen Rhythmus – und vor allem der Stille, die in der kargen, windlosen Landschaft jenseits der Zivilisation eine ungeahnte, eindrückliche Dimension annimmt. Wie in diesem Moment am Tjäkta-Pass, hinter dem sich ein völlig lautloses Tal eröffnet. „Genau so muss sich ein luftleerer Raum anhören. Das war wirklich krass“, erinnert sich Fabian immer noch fasziniert. Die Stille ist einer der Gründe, warum die beiden Freunde hier sind. Denn hier entfaltet sich die Einsamkeit in ihrer schönsten Form. Es gibt kein Internet, das durchbraust werden will, keine Nachrichten, die aufblinken, kein Trubel, der die Sinne einnimmt. Nichts lenkt ab, man ist nur im Hier und Jetzt, folgt dem Weg, dem eigenen Atem und den regelmäßigen elementaren Tätigkeiten aus Holzhacken, Feuermachen und Wasserholen. Man reduziert sich aufs Wesentliche und kehrt dabei voll und ganz zu sich selbst zurück.

An der dritten Unterkunft, der Sälka-Hütte angekommen, beginnt das Versorgungsritual von Neuem. Zieht Fabian die schwere Pulka, so kümmert sich Andreas ums Kochen und auch ansonsten verstehen sich die beiden Weggefährten inzwischen fast blind und wortlos. Selbst beim allabendlichen Kartenspiel herrscht Harmonie pur. Wie in allem geht es auch hier nicht um Wettbewerb, sondern einzig um die große Leidenschaft, Natur auf besondere Weise zu erleben.

„Wenn morgens dann die Sonne aufgeht und die Nebel aus dem Tal ziehen, ist das ein wirklich unvergleichlicher Anblick“, schwärmt Andreas. Sie befinden sich inzwischen auf ihrer letzten Etappe, bevor sie an einem der Ausstiege von einem Snowmobil abgeholt und aus dem Tal gebracht werden. Kurz bevor das gemeinsame einsame Abenteuer endet, entdecken die beiden plötzlich eine alte Elchkuh, die in der kargen Landschaft nach Futter sucht. Als wäre sie die letzte ihrer Art. Ein fast mystischer Moment, der bleibenden Eindruck hinterlässt. Dorothea wird die alte Dame getauft, die nur kurz aufblickt, um sich dann wieder in ihre Suche zu vertiefen. Wie ein Wesen aus einer anderen, friedlicheren Welt, die noch lange in den beiden Reisenden nachklingt.

Bevor es jedoch endgültig zurück in die quirlige Zivilisation geht, gönnen sich die Freunde vor der Heimreise noch eine letzte entspannte Skitour und einen Tag im gemütlichen Retro-Skigebiet von Narvik mit Wes Anderson-Atmosphäre. Ein langsames Annähern an den Alltag und der perfekte Ausklang für eine sinnliche, leise Reise.

Foto Credit: Andreas Jacob